Realitäts-Check: Forschung im Gespräch mit ambulant Pflegenden

Forschung zu Arbeit und Gesundheit ist Wissenschaft für Menschen. Deshalb müssen wir auch mit den Menschen sprechen, um die es geht - z. B. den Pflegenden im ambulanten Bereich. Ein Beitrag von Julia Petersen

Pflegekraft versorgt Seniorin
© iStock/PIKSEL

Die ambulante Pflege wird immer wichtiger: Durch den demografischen Wandel sowie veränderte Lebensweisen und Familienstrukturen wächst der Bedarf an professioneller Unterstützung durch ambulante Pflegedienste - denn die meisten Menschen möchten auch im Alter so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Ambulant Pflegende sind dabei vielfältiger physischer und psychischer Belastung ausgesetzt.

Wir von der BAuA-Gruppe "Arbeitsgestaltung bei personenbezogenen Dienstleistungen" forschen deshalb im Rahmen des Projektes "Gute Arbeitsorganisation in der ambulanten Pflege: Ermittlung der Belastungs- und Beanspruchungssituation" zu diesem Thema.

Empirie als Basis

Im Rahmen des Projektes kombinieren wir klassische datenbasierte Forschung mit einem direkten Austausch mit Expertinnen und Experten aus der ambulanten Pflege. Ziel ist es, dass sich beide Herangehensweisen gegenseitig ergänzen. Der datenbasierte Teil hatte die BAuA Erwerbstätigen- und Arbeitszeitbefragungen als Grundlage. Ergebnisse dessen sind im baua: Fokus: "Belastungs- und Beanspruchungssituation in der ambulanten Pflege" zu finden.

Kurzfazit: Insgesamt sind die ambulant Pflegenden hoher physischer sowie psychischer Belastung und Beanspruchung ausgesetzt. Ambulant Pflegende müssen zwar im Vergleich zu stationär arbeitenden Kolleginnen und Kollegen etwas seltener an ihre Leistungsgrenzen gehen und erhalten im Schnitt mehr Unterstützung durch Vorgesetzte. Gleichzeitig gibt es im ambulanten Bereich eigene Herausforderungen: So müssen Beschäftigte hier häufiger in gebückter, hockender oder kniender Stellung arbeiten - Privatwohnungen sind eben zum Teil ergonomisch ungünstiger gestaltet als Pflegeeinrichtungen. Zusätzlich machen Pflegenden immer wieder schwierige klimatische Bedingungen zu schaffen, etwa beim Baden oder Duschen von Pflegebedürftigen. Die Feuchtigkeit, Nässe und Hitze, denen Beschäftigte in diesen Situationen ausgesetzt sind, können zur Belastung werden – erst recht, wenn im Winter der Weg durch die Kälte zum Auto folgt. Eine weitere Besonderheit der ambulanten Pflege sind die durch die Finanzierung indirekt vorgegebenen Zeitvorgaben pro Pflegebedürftigen-Besuch. Dies spiegelt sich in den Daten durch den hohen Anteil der Mitarbeitenden wider, die angeben, häufig unter starkem Zeit- oder Leistungsdruck arbeiten zu müssen.

Diese ungünstigen Rahmenbedingungen beeinflussen die Gesundheit der ambulant Pflegenden. Insgesamt berichtet ein hoher Anteil der Befragten von konkreten körperlichen und psychischen Beanspruchungsfolgen.

Bestätigung und Ergänzung im direkten Austausch

Als "Realitiäts-Check" für diese empirischen Ergebnisse haben wir uns im Februar 2022 in drei Fokusgruppengesprächen mit insgesamt 23 Expertinnen und Experten aus der ambulanten Pflege ausgetauscht. Dazu gehörten Menschen aus Praxis, Politik und Wissenschaft. Deren Erfahrungen bestätigten dabei die Hinweise aus der Literatur und ergänzten diese: Ambulant Pflegende sind auch ihrer subjektiven Einschätzung zufolge häufig physischer Belastung wie schwerem Heben und Tragen, der Erfordernis z. B. in gebückter oder kniender Haltung zu arbeiten, Infektionsrisiken, Stolper-, Sturz- und Rutschgefahren sowie Klimaschwankungen ausgesetzt. Muskel- und Skelett-Erkrankungen sind dementsprechend sehr häufig, ebenso wie das "Burnout-Syndrom". In den Gesprächen wurde zudem deutlich, dass auch viele "unbekannte" bzw. öffentlich weniger diskutierte psychosomatische Probleme wie Sehstörungen oder Zahnerkrankungen durch Knirschen unter ambulant Pflegenden ein Problem sind.

In den Gesprächen wurde auch unser Verständnis für die Ursachen psychischer Belastung geschärft: Zeitdruck als Folge des Abrechnungssystems, Konflikte zwischen Arbeits- und Familienleben durch Schichtarbeit und Anfragen in der Freizeit sowie häufige Auseinandersetzungen mit Pflegebedürftigen bzw. deren Angehörigen wurden genannt. Die Expertinnen und Experten betonten dabei auch den schwierigen Umgang mit den verschiedenen, teils widersprüchlichen Erwartungen der Pflegebedürftigen, behandelnden Ärztinnen und Ärzte oder Kliniken und Kranken- bzw. Pflegekassen.

Angesichts dieses Belastungsspektrums sind ausreichende Erholungsmöglichkeiten enorm wichtig. So wurde auch das Thema "Pausen" diskutiert: Diese werden oft nicht miteingeplant, weil der Dienst auf dem Papier nur sechs Stunden dauert, oder können aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen nicht genommen werden. Aus Perspektive von Pflegedienstleitungen wurde ergänzt: Pflegende wollen teilweise die Pause nicht nehmen, da sie lieber früher den Dienst beenden. Für die Führungskräfte wäre es deshalb interessant zu wissen, wie (Ort, Zeit etc.) die Mitarbeitenden ihre Pause verbringen möchten. Dieser Aspekt wurde deshalb in die im Projekt durchgeführte bundesweite Online-Erhebung zur Belastungs- und Beanspruchungssituation unter ambulant Pflegenden mit aufgenommen.

Was kann getan werden?

Dass mehr Wertschätzung sowie eine bessere Personalausstattung und Vergütung helfen würden, die Belastungssituation ambulant Pflegender zu verbessern, steht außer Frage und wurde in den Gesprächsrunden noch einmal bestätigt. Aus den Diskussionen entstanden darüber hinaus auch Vorschläge für konkrete und gut umsetzbare Maßnahmen, z. B.:

  • Kooperation von Pflegediensten: gemeinsamer "Springerpool"
  • familienfreundliche Schichten ("Eltern-Dienst" von 8-14 Uhr)

Zum Thema "Einsatz digitaler Technologien in der ambulanten Pflege" war das Stimmungsbild der Teilnehmenden sehr gemischt. Einerseits beobachten die Teilnehmenden, dass die technische Ausstattung ambulanter Pflegedienste durch die Erfahrung der Pandemie einen enormen Aufschwung bekommen und Prozesse wie Dienstplangestaltung, Leistungserfassung oder Tourenplanung vereinfacht hat. Andererseits sehen sie bei digitalen Tourenplanungssystemen die Gefahr der Überwachung der Beschäftigten.

Insgesamt hat sich der direkte Austausch aus unserer Sicht für das Projekt sehr gelohnt. Neben der Bestätigung vieler Erkenntnisse aus empirischen Studien gab es auch neue Einsichten für das Gesamtprojekt:

  • Die unterschiedlichen Finanzierungstrukturen und das damit verbundene Geflecht an Zuständigkeiten sowie die landesspezifischen Spezifikationen von Regulierungen tragen zur Komplexität der Versorgungssituation und damit zur psychischen Belastung der Beschäftigten bei.
  • Ambulante Pflege ist nicht ambulante Pflege! Es muss auch hinsichtlich der Belastungs- und Beanspruchungssituation zwischen einzelnen Settings wie häuslicher Alten- und Krankenpflege, häuslicher (Kinder-)Intensivpflege, häuslicher psychiatrischer Pflege und der spezialisierten ambulanten Palliativpflege differenziert werden.
  • Die Rückmeldungen der Teilnehmenden haben uns auch für die Konzeption der Online-Befragung sehr weitergeholfen. So konnten wir z. B. Verständnisschwierigkeiten auflösen und prüfen, ob die Fragen für alle Settings sinnvoll ausfüllbar sind.
  • Die Teilnehmenden fühlen sich von der Politik vernachlässigt, nicht ausreichend unterstützt (auch bezüglich der COVID-19-Pandemie) und in der Forschung zu wenig abgebildet.
  • Die teilnehmenden Pflegenden arbeiten gerne im ambulanten Bereich, gerade weil langfristige Beziehungen zu den Pflegebedürftigen möglich sind. Die Bedingungen, unter denen sie dies tun, müssen jedoch verbessert werden.

Persönlicher Zugang hilft beim Forschen

Auch unser Team hat von den Gesprächen stark profitiert. Der direkte Austausch mit Praktikerinnen und Praktikern hat die Erkenntnisse aus der Literatur durch persönliche Geschichten lebendig gemacht. Der Leidensdruck und damit der Handlungsbedarf insbesondere auf politischer Ebene wurde verdeutlicht. Zudem wurde klar: Unabhängig von den bedenklichen Belastungskonstellationen ist ambulante Pflege für die meisten Beschäftigten eine sinnerfüllende und schöne Arbeit. Es ist nicht die Arbeit mit Menschen, sondern die Rahmenbedingungen, die die Arbeit massiv erschweren.

Zitiervorschlag

Petersen, Julia, 2022. Realitäts-Check: Forschung im Gespräch mit ambulant Pflegenden. In: Neues aus den Projekten [online]. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Verfügbar unter: https://www.baua.de/DE/Forschung/Projektblogs/Neues-aus-den-Projekten-Blog/Artikel/Realitaets-Check-ambulante-Pflege.html

Publikationen

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